Die Gegend um die Tassostraße herum, in Neu-Weißensee, war kein Arme-Leute-Viertel. Dort standen keine der üblichen engen Berliner Mietskasernen, dort hatte man ein architektonisch abwechslungsreiches Wohnviertel gebaut. Die Idee dahinter war wohl, Gutbetuchte in den proletarischen Berliner Vorort zu locken. Das war zu Beginn des 20.Jahrhunderts. Wir zogen fünfzig Jahre später, Mitte der 50er Jahre dorthin. Zweiter Stock. In eine Zahnarztwohnung. Meinem Vater wurde als Kind in seinem späteren sogenannten „Besuchszimmer“, ein Zahn gezogen. Von Dr. Maus. Den gab es nun nicht mehr, den Dr. Maus wie auch den Zahn. Unter uns, erster Stock, wohnte der Allgemeinmediziner Dr. Bularczyk. Es war praktisch, einen praktischen Arzt im Haus zu haben. Die Wohnungen war eben geschnitten wie für eine Praxis: von der Diele nach rechts lag das Wartezimmer und daneben das Behandlungszimmer, links in der Diele ein Patientenklo und eine Kammer für was weiß ich, irgendwas Medizinisches wie Bestrahlung oder so. Geradeaus ein Berliner Zimmer als bürgerliches Wohnzimmer, daran anschließend ein langer Korridor zum Badezimmer, zur Küche und zu den zwei Schlafzimmern. Von der Küche aus über den Balkon führte eine Wendeltreppe in den Hof. Eine Berliner Arztpraxis.
Jetzt wurde daraus eine Wohnung für einen Grafiker und Bibliophilen, mit Stammkundschaft, mit großem Freundeskreis und mit großer Familie mit Hund. In jedem Zimmer standen Bücherregale, zum Teil bis an die Decke hoch, außer in der Küche und im Bad. Das Arbeitszimmer von Werner Klemke wurde das Durchgangszimmer. Das hatte einen Nachteil. Es hatte nur ein sehr großes Fenster nach Süden, ein Zeichner braucht aber Licht von Norden. Also wurde, mit behördlicher Genehmigung, ein großes Loch in die Nordwand geschlagen und ein Fenster eingesetzt. Diese Wand war seit einem Bombenangriff im Krieg eine Außenmauer, denn das Nachbargebäude war weg, nur noch das schwarz verrußte Kellergeschoß stak in der Erde. Ein Bombenschaden… wie überall in Berlin. So hatte mein Vater also sein Nordlicht. Ein paar Jahre lang. Dann begann man auf dem Ruinengrundstück zu bauen. Als der Neubau fertig war, hing ein Balkon des neuen Hauses genau vor dem Arbeitszimmerfenster von Klemke. Die Nachbarsfamilie hätte jede Illustration als Erste auf dem Arbeitstisch sehen können, noch bevor der Verlag sie zu Gesicht bekommt. Also Rollladen runter und Kunstlicht an! Dieses Fenster wurde nie wieder als Fenster genutzt.
Ein Wort zum Besuchszimmer, dem ehemaligen Zahnarzt-Behandlungsraum. Von dessen gruseliger Vergangenheit war Gottseidank nichts mehr zu spüren. Wie gesagt, in fast jedem Zimmer standen Bücherregale, aber in diesem Raum waren die ihm liebsten Bände versammelt… von der Chronik des Konzils von Konstanz aus dem 15.Jahrhundert bis zu… na ja, bis zu was auch immer man will. Ich erinnere mich genau an den Anblick, kurz bevor man zur Schule ging, wenn die Morgensonne sich in den Goldprägungen der alten Bücher spiegelte. Und alte Ledereinbände haben einen besonderen Geruch. Ich mag ihn.

Unser Vater hat das Licht dieser Morgenstunde sogar fotografiert.
Wenn wir Kinder irgendein Buch, den Werther zum Beispiel, für den Deutschunterricht brauchten, dann hätten wir ihn wohl auch als Erstausgabe oder in der Vollständigen Ausgabe Letzter Hand gefunden. Aber so lief das natürlich nicht. Wir gingen, wie andere Schüler auch, mit der entsprechenden Reclam-Ausgabe in die Schule.
Dieser Raum war also Werner Klemkes Schatzkammer.
Unser Vater hat sein Leben lang versucht, das Prinzip Buch bis ins letzte Detail zu verstehen. Learning by doing. Er hat sogar Bücher selbst gebunden… nach allen Regeln der Buchbindekunst. In der Buchbinderpresse, mit Fadenheftung. Er hat am Buchrücken Kapitale angebracht und Kapitalbänder, den Einband in Pergament gebunden mit selbstgemachten Marmorpapieren beklebt, den Titel mit Tusche auf den Buchrücken geschrieben… davon standen einige in seiner Bibliothek.

In diesem Raum, dem Besuchszimmer wurden Gäste, also „Besuch“ empfangen. Im Nachhinein habe ich das Gefühl, jeden Abend war Besuch da und sehr früh schon durften / sollten auch wir teilnehmen. Das war ein Prinzip unserer Eltern, früh zu lernen, ein guter Gastgeber zu sein. Es waren Tischrunden und das Gespräch wurde gemeinsam geführt, nicht aufgeteilt in Grüppchen. Meine früheste Erinnerung ist die an den Gast Heinar Kipphardt. Da saß ein Mann in dem besagten Besuchszimmer meiner Eltern, der uns, meiner Schwester und mir zeigte, wie man sein „Böckchen“ loswird. Also wenn man so richtig sauer und wütend war auf Gott und die Welt und die Eltern, was ja vorkommen kann, muss man den Mund weit aufreißen, damit das Böckchen rausspringen kann. Das hat er uns so erklärt und wir haben‘s mit ihm gemeinsam durchprobiert. Es muss so 1954/55 gewesen sein. Kipphardt war außer Schriftsteller und Theatermann ja auch Psychiater. Bei Wikipedia steht, er „promovierte 1950 mit einer Dissertation zur Prognose der Intelligenzentwicklung beim Kinde.“ Na bitte, passt ja!
Russische beziehungsweise sowjetische Künstler waren wohl die fröhlichsten. Eines Abends war da ein Zeichner, den Namen suche ich immer noch und komme nicht drauf, er wie seine Frau waren adliger Abstammung und wenn sie sich stritten, dann beschimpften sie sich mit ihren Titeln, Fürst und Gräfin, also der tanzte im Besuchszimmer derart wild, dass die kleinen zarten Keramik-Figürchen vom Regal zu fallen drohten. Der Boden schwankte kritisch. Das war nämlich das Damoklesschwert der Bibliophilen-Wohnung in der Tassostraße 21 – die sicher ausgereizte Deckenbelastung.