Werner Klemke wurde 1939 zum Flak-Ersatzregiment Hermann Göring eingezogen und erreichte den Dienstgrad eines Stabsgefreiten. So einer steht in der Militärhierarchie… fast ganz unten. Ich glaube, jedes Militär, auch das damals, hofft, dass man speziell aus Abiturienten gute Flak-Soldaten machen kann, weil vor dem eigentlichen Flugzeugbeschießen einiges berechnet werden muss, also Mathematik nützlich ist.
Der Soldat Werner Klemke konnte gut zeichnen. Und schreiben. Schönschreiben. Er wurde Schreiber. Ob beim Spieß oder beim Batteriechef? Ich weiß es nicht, das ist auch egal, jedenfalls nutzte er diese Stellung. Die Wehrmacht besetzte Holland und der Stabsgefreite Klemke war nun dort Besatzungssoldat.
Wie er zum holländischen Widerstand gekommen ist und was genau sein Mitwirken war, entdeckt die niederländische Filmemacherin Anett Betsalel in ihrem Dokumentarfilm „Treffpunkt Erasmus“ von 2015. Nur soviel: der jüdische Großhändler Philip Samuel (Sam) van Perlstein erhielt auch Dank der Mithilfe von Klemke und seines Kameraden Johannes Gerhardt eine Art „Ariernachweis“, natürlich gefälscht, den er den Besatzungsbehörden vorlegte. Er wurde nicht deportiert und erhielt sogar wieder Zugang zu seinen Konten. Geld, Stellung und Besitz nutzte der jüdische Unternehmer Sam van Perlstein von nun an für die Onderduikers, die Untertaucher. Juden, deutsche Deserteure, englische Piloten wurden versteckt und über die deutsche Besatzungszeit am Leben erhalten. Diese Widerstandsgruppe in Blaricum war jedoch nicht Klemkes einziger Kontakt. Er soll auch Verbindung zum Widerstand in Amsterdam, in Rotterdam und in der Region Het Gooi gehabt haben. Doch das genaue Wie und Was liegt weiterhin im Dunklen.

Die Judenverfolgung, die er in den besetzten Niederlanden miterleben musste, hat ihn zeitlebens nicht losgelassen und die Behauptung von Deutschen „Wir wussten das nicht“ ließ er nie gelten.
In Holland wurden Bücher für Klemke mehr und mehr fundamental. So kam zum Beispiel der Kontakt zum Widerstand in einer jüdischen Buchhandlung in Amsterdam zustande. Er kannte wohl alle einschlägigen Buchhandlungen dort und er kaufte. Exilliteratur.
Einmal kam der Gefreite Gustav Gründgens (ja,der!) in die Schreibstube, so erzählte unser Vater, und überraschte Klemke in einem der verbotenen Bücher lesend. Gründgens: „Das dürfen Sie doch nicht so offen zeigen!“ Klemke: „Ach, hier weiß keiner, was das ist!“
Das folgende Buch, eine Grafikmappe in Buchform hatte er nicht gekauft, die bekam er dort in Holland geschenkt, von einem Kameraden, der sie vielleicht gefunden oder geklaut hatte, jedenfalls soll er gesagt haben: „Ich brauch das Buch nicht, nimm Du das, Du interessierst Dich doch für sowas.“
Das Buch legte mir mein Vater an’s Herz „Pass darauf auf!“.

Was ist nun mit diesem leicht ramponierten Exemplar von Ecce Homo? Man weiß – der Ecce-Homo-Skandal – der Zeichner George Grosz und der Verleger Wieland Herzfelde standen wegen des Buches vor Gericht. Laut Anklage wären die Grosz-Grafiken „grob unzüchtig“! Das war 1923. Verleger und Zeichner bekamen eine Geldstrafe und 22 Bilder mussten aus der Grafikmappe entfernt werden. Dieses frühe Exemplar hat noch alle Bilder. Absolut verfemt war die Ecce-Homo-Mappe dann während der Nazizeit. Also, der Weg dieses Buches führte einst von Deutschland nach Holland, kam dort in die Hände von Klemke und noch während des Kriegs wieder zurück nach Berlin. Es überlebte. Jahre später feierten unser Vater und Wieland Herzfelde nachträglich die glückliche Rettung und Heimkehr dieses Exemplars von Ecce Homo bei einer Flasche Wein. Wielandchen, so nannte mein Vater den Verleger Herzfelde, Wielandchen schrieb ihm dann in das Buch: „…nach einem schönen Abend auf den Spuren der vergangenen, aber nicht verlorenen Zeit. Wieland Herzfelde Berlin, den 12.Juni 1959“
Bücher haben auch eine Geschichte.
Wir passen auch weiterhin auf das Buch auf!
Eine andere holländische Buchgeschichte spielte im Stejdelik Museum Amsterdam. Eine Geschichte, die der Moskauer Kunsthistoriker Anatoli Kantor 1969 veröffentlichte, nämlich Klemkes erste Begegnung mit dem sowjetischen Kinderbuch der 20er Jahre, mit den Illustratoren der sowjetischen Avantgarde. Es war die Kuratorin des Stedelijk Museums Paula Augustin, die mitten in der Besatzungszeit dem Wehrmachtssoldaten Klemke einen gehüteten und vor den deutschen Besatzern versteckten Schatz, eine Sammlung sowjetischer Kinderbücher, zeigte. Die Idee hinter dieser Bücherreihe war: in Schulheftform, billig im Preis, aber von den besten Autoren und Grafikern gestaltet. Und sie waren darin alle vertreten, Wladimir Lebedjew, Pjotr Mituritsch, Alexej Pachomow, Samuil Marschak, Kornej Tschukowsky. Unser Vater war von dieser Idee und der Machart fasziniert.
Warum aber hat eine Amsterdamer Museumsangestellte einem deutschen Besatzungssoldaten diese Geheimfächer geöffnet? Ich vermute, da auch Mitarbeiter des Stejdelik Museums an der große niederländischen Widerstandsaktion beteiligt waren, von den Nazis Verfolgte durch „Untertauchen“ zu schützen, lag der Schlüssel in dieser Gemeinsamkeit, im Widerstand.
Klemke hat diese erste Begegnung mit der frühen sowjetischen Kinderbuchillustration nicht vergessen und sich später bemüht, die in der Stalinzeit verfemten Künstler zumindest in der DDR vorzustellen. Er erzählte, dass er als Akademiemitglied gemeinsam mit dem Akademiepräsidenten Konrad Wolf bei der sowjetischen Kulturministerin vorstellig wurde, um die Arbeiten jener Künstler in Berlin zu zeigen, wenn man sie schon in Moskau nicht ausstellen wollte. Die Dame hörte übrigens, was er gern anmerkte, auf den schönen Namen Furzewa. Von der Furzewa holten die beiden sich natürlich eine Abfuhr, sie gab die Werke nicht frei.

Erst 1971 gelang es, zunächst eine Akademieausstellung von Alexej Pachomow in Berlin und später auch Wladimir Lebedew sowie eine Ausstellung vieler dieser Meister des sowjetischen Kinderbuches zu realisieren.