Es hieß, die Bibliothek des Historikers Jürgen Kuczinsky in Weißensee wäre die größte Privatbibliothek der DDR mit 70.000 Bänden, die schönste aber, mit 30.000 Bänden, die von Werner Klemke. Was heißt 30.000? Die Bücher sind nie gezählt worden, nur geschätzt… soundsoviel pro laufenden Meter. Die Bibliothek sollte mal katalogisiert werden, in den 80ern, aber das hat dann niemand hingekriegt. Diese Zahl Dreißigtausend nannte mein Vater, nicht ich. Und was heißt „schön“? Seine Bibliothek war eine Arbeitsbibliothek für Jemanden, dessen Leidenschaft der Ästhetik des Buches galt… des Buches durch die Jahrhunderte seit dem Buchdruck und davor. Das Buch als die in jeder Hinsicht große Kulturleistung der Menschen. Vor allem interessierten ihn die Goldenen Zeitalter der Buchgestaltung wie das im Frankreich des 18.Jahrhunderts oder in Italien im 16. Ebenso konnte er begeistert über die billigen Kinderbücher der russischen Avantgarde reden, die er ja zum ersten Mal während des Krieges im Amsterdamer Stedeleijk Museum sah, nun aber schon mit Beispielen aus seiner eigenen Bibliothek. Außerdem hielt er Seminare mit seinen Studenten zu Hause im Besuchszimmer ab, wenn es um Buch und Illustration ging. Wo ginge das besser als bei ihm mit all den exzellenten Beispielen? Auch Pirckheimer trafen sich dort bei ihm, um zu schauen und zu reden. Das war aber nicht allen Mitgliedern recht und seriös genug, wurde eher als bibliophiles Kaffeekränzchen gesehen.
Als 1956 die Pirckheimer-Gesellschaft, die Vereinigung der Bücher und Grafik-Sammler der DDR, gegründet wurde, gehörte Klemke zu den Gründungsmitgliedern. Mein Vater nannte die Pirckheimer einen Verein von K’s gegründet – Kaiser, Kunze, Klemke, Kohlmann, Körner, Kapr, Kuczinsky… na ja, ein paar andere ohne K waren wohl auch dabei.
Bruno Kaiser hatte den Mitgliedsausweis Nr.1 und Klemke Nr.2. Einige von den K‘s habe ich auch kennengelernt; Bruno Kaiser war, wie mein Vater sagte, ein Marx-Jäger. Es suchte nach dem Krieg die in Europa verstreuten Bibliotheken und Handschriften von Marx und Engels wieder zusammen, Horst Kunze, Chef der Staatsbibliothek, wurde ein sehr enger Freund meines Vaters und sein Biograf, er war ein Spezialist für die Buchillustration des 16. Und 17.Jahrhunderts und wie mein Vater, ein Freund komischer Texte, Stilblüten, Schüttelreime und Klapphornverse wie
Zwei Knaben zogen durch das Korn,
Sie waren beide Feger des Schorn
Der eine konnte gar nicht fegen
Der andre fog brillant dagegen
Kunze veröffentlichte Bücher dazu, die Klemke illustrierte. Wolfram Körner, ein Arzt, besaß eine vorzügliche Erotika-Bibliothek mit Ausgaben des 18. Und 19.Jahrhunderts (ja, das war möglich in der DDR), seine Ehefrau sammelte übrigens antike Fingerhüte. Erwin Kohlmann war Buchhändler in Naumburg und konnte ein beeindruckende Sammlung von Spielkarten aus vielen Jahrhunderten vorweisen, anständige und unanständige. Die Pirckheimer stellten sich ihre Kollektionen untereinander und in der Öffentlichkeit vor, schrieben in Zeitschriften oder/und hielten Vorträge in Stadt und Land.
Es gab ziemlich viele sogenannte Klubs der Intelligenz in der DDR. Das waren Einrichtungen, in denen sich Wissenschaftler, Ärzte, Ingenieure und andere Akademiker, aber nicht nur die, trafen und diskutierten, Ausstellungen organisierten oder Referenten anfragten. Diese Klubs holten sich auch Pirckheimer wie meinen Vater. Er reiste, ich habe ihn mehrmals begleitet, mit einem Vortrag über die Entwicklung der Schrift in den Jahrhunderten und die Verbindung von Schrift und Kunst… eben SEIN ureigenstes Thema.

Dafür hatte er sich extra eine Serie großformatier Diapositive angefertigt, die er dem Publikum vorführte und dazu Schnaken und Schnurren aus der Welt der Schönen Schrift zum Besten gab – mit pädagogischem Hintergrund, versteht sich. In bester Erinnerung geblieben ist mir der Klub der Intelligenz in Halberstadt, zum Vortrag gab’s dort Halberstätter Würstchen, die waren köstlich.