Kunsthochschule

Wie unser Vater etwas später, war Ernst Vogenauer Dozent an der Hochschule für angewandte Kunst Berlin-Weißensee, so hieß die Kunsthochschule 1950. In jenem Jahr spielt diese Geschichte.

Ich habe als Kind Briefmarken gesammelt und hatte auch Marken, entworfen von Ernst Rudolf Vogenauer, zum Beispiel aus alter Zeit eine Marke „Hitler mit Dienstmütze“, aber auch modernere, so schicke quadratische graue Marken mit einem Flugzeug und auch eine Sputnik-Marke. Die hatte Vogenauer mir für mein Album geschenkt. Für uns war er „Onkel Ernst“. Viele der Freundschaften von Werner und Gertrud Klemke durften / sollten wir Kinder Onkel oder Tante nennen, ohne mit denen verwandt zu sein, als Nennonkel und Nenntanten. John Heartfield war zum Beispiel Onkel Jonny, nur Wieland Herzfelde war Wieland, für unseren Vater aber Wielandchen. Man sagt, unser Vater hätte sich selbst, wohlgemerkt, nur er sich selbst, niemand anderes durfte das, gegenüber seinen Studenten als Onkel Werner bezeichnet „…und morgen sieht sich Onkel Werner mal Eure fertigen Arbeiten an!“, so in etwa.

Zurück zu Vogenauer, also meine Alben sind längst verschwunden. Aber es existiert noch eine kleine Flasche aus Keramik. IMAGO1950 steht auf der einen Seite, auf der anderen ist diese Dame zu sehen und 45%. Ein Mitbringsel meiner Eltern von einer für die Hochschule nicht unwichtigen Feier, wie sich zeigen sollte. Diese Keramikflasche ist, so wurde uns gesagt, von ihm, vom Grafiker, Schriftkünstler und Keramiker Ernst Rudolf Vogenauer, dem gebürtigen Münchner und Professor an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Dass die Flasche Teil einer für die Hochschule richtungsweisenden politischen Säuberungsaktion war, sieht man ihr nicht an.

Gemeinsam mit den Studenten hatte sich Vogenauer, er als Verantwortlicher, an der Ausgestaltung des Studentenfaschings der Kunsthochschule „IMAGO“ beteiligt. Das Plakat für den Fasching ist von ihm, er wirkte mit an der Gestaltung der Dekorationen, an Halstüchern, Eintrittskarten, Spruchbändern und, wie gesagt, er schuf auch etliche dieser kleinen Schnapsflaschen. Das Fest fand im Februar 1950 in der Gustav-Adolf-Straße in Weißensee statt. Gleich nach Ende des dreitägigen Festes wurden all die fröhlich gestalteten Dekorationen zu „Beweisstücken“, eindeutiges Zeugnis für den „Formalismus und Kosmopolitismus“ unter den Dozenten und Studenten der Kunsthochschule. Das Volksbildungsministerium und das ZK der SED hatten im Plakat, in den Tüchern, Einladungskarten und eben auch in den Flaschen das „wahre Gesicht der Hochschule erkannt“. Für die Partei war der Fasching kein Fest, sondern ein Vorfall und zu einer willkommenen Causa geworden, um die man nun sich höheren Orts kümmern würde. Was folgte, war eine Säuberungsaktion an der Hochschule. Prof. Bontjes van Beek, der Rektor wurde gleich in die Wüste geschickt, Prof. Vogenauer und andere Dozenten sollten ebenfalls entfernt werden. Über Wochen Sitzungen, Berichte, Aussprachen mit Vorwürfen, Unterstellungen und Anklagen. Einige Dozenten mussten gehen, Ernst Vogenauer aber wurde letztendlich beschieden, er sei „politisch bürgerlich-loyal, aber künstlerisch keineswegs frei vom Formalismus. Trotzdem“, so im Bericht über die Diplomarbeiten an der Hochschule 1951, „muss hervorgehoben werden, dass die Arbeiten seiner Studenten ausnahmslos fachlich und künstlerisch gut waren. Von der mangelnden ideologischen Arbeit abgesehen, ist seine fachliche Erziehungsarbeit offenbar sehr gewinnbringend“.  Er durfte an der Hochschule bleiben, er war wohl nicht ersetzbar als ausgezeichneter Künstler und guter Pädagoge. Und unser „Onkel“ Ernst blieb uns erhalten.

Unser Vater hat ihn fotografiert, von seinem Schreibtisch aus. Ernst Vogenauer sitzt in Klemkes Arbeitszimmer am großen Fenster auf dem roten Besuchersessel. Das war 1959. Vogenauer wohnte in Tempelhof und kam zur Weißenseer Hochschule noch bis nach dem Mauerbau, bis 1962. Dann durfte oder konnte oder wollte er nicht mehr rüberfahren.

Fotografiert hatte unser Vater auch Onkel Julius, eigentlich Julius Friedrich Wilhelm Anton Rodenberg, ein alter Herr, gebürtiger Bremer, Bibliothekswissenschaftler mit hohen Verdiensten beim Aufbau buchkünstlerisch einzigartiger Sammlungen in Deutschland.

Onkel Julius saß, meiner Meinung nach, immer im Arbeitszimmer unseres Vaters. Gefühlt jeden Tag. Ich rede jetzt über die 50er und 60er Jahre. Unsere Mutter brachte ihm dann eine Kanne Kaffee, so eine große weiße Meissner, er holte seine Pfeife raus – er war ein großer Kaffeetrinker und Pfeifenraucher vor dem Herrn – und dann saß er dort und redete und schaute unserem Vater bei der Arbeit zu. Eigentlich sollte Nennonkel Julius die Bibliothek der Kunsthochschule aufbauen. Wann er das machte, weiß ich nicht, aber die Kunsthochschule hat eine, aufgebaut wohl vom besten Mann, den man dafür kriegen konnte – Onkel Julius.