Gabriele

Als unsere älteste Schwester geboren wurde, 1943, in der Nazizeit, so erzählte es unsere Mutter, war der erste Namenswunsch auf dem Standesamt „Sarah“ gewesen sein. Der Standesbeamte: „Abgelehnt! Jüdisch!“ Der zweite Vorschlag war „Ruth. Genauso schlimm! Abgelehnt!“ Der Standesbeamte war wohl schon am Verzweifeln, so dass er den dritten Namenswunsch „Gabriele“ schließlich akzeptierte. (auch der Name kommt aus dem Hebräischen).

Unser Vater hatte für seine Tochter Gabriele Kassetten angefertigt und mit einem fröhlichen Vater-Mutter-Kind-Bild bemalt, um darin alle Fotos ihrer Kindheit und Jugend zu sammeln.

Der Winter 1946/47 heißt bei den Historikern „Hungerwinter“. Damals starben als Erste die Schwachen, also die Alten und die Kinder. Unsere Schwester Gabriele wurde nur 5 Jahre alt. Eine familiäre Katastrophe, eine Wunde, die sich nie schloss. Wir haben sie nicht kennengelernt, aber sie wurde in unserer Familie immer präsent gehalten. Auf eine ganz liebevolle Art. Dafür sorgten unsere Eltern.

Aber diese Präsenz der „Ältesten Schwester“, die wie ein Schutzengel-Kind, ewig 5jährig, oder wie ein Christkind für die Alltagssorgen unter uns war, könnte auch ein Tor zu einer ganz eigenen oder besonderen Spiritualität gewesen sein, wie meine Schwester Sabine meint.

Unsere Mutter war katholisch, aber nicht stockkatholisch. Unser Vater war… ich glaube, er war einfach nur seinen humanistischen Idealen verpflichtet.

Unsere Schwester Christine im Interview: „Mein Vater hat so eine Zeichnung gemacht, vom Tod seiner Tochter, die kann man nicht angucken ohne in Tränen auszubrechen, das ist so…, kann ich jetzt gar nicht erzählen, …das ist so ein unglaublich gutes Bild. Da merkst du auch, so intelligent und klug und leidenschaftlich er war, so war er auch von einer unglaublich tiefen Empfindungsfähigkeit. Wie meine Mutter.“

In unserem Garten steht ein Relief, ein kleines Mädchen mit Zöpfen und einer Puppe in der Hand, gebrannter Ton, am Rand die Buchstaben LD. Wir glauben, das sind die Initialen der Bildhauerin Lilo oder Liselotte Dankworth. Gefertigt, so vermuten wir auch, nach einem Entwurf meines Vaters. Dieses Relief sollte der Grabstein für unsere Schwester werden. Doch dagegen stand die „Katholische Friedhofsordnung – Abschnitt Vorschrift für Grabmale“. Irgendwas passte da nicht. Am Kopfende des Grabes pflanzte meine Mutter stattdessen ein weißen Schneeballstrauch. Unsere Schwester Ulrike im Interview: „Jeden Sonntag sind wir zu Friedhof und haben das Grab besucht. Das war für uns Kinder ganz normal, dass wir sonntags auf den Friedhof gehen. Und Christine: „Ja, mit’n Hund. Der musste vorn angebunden werden und dann waren wir dort und fanden das auch gut so. Dadurch gehörte die Schwester immer zu uns.“

Heute ist das Grab längst eingeebnet, die ganze Kindergrabreihe, die dort war, ist verschwunden. Aber das Relief hat in unserem Garten seinen Platz und da bleibt es auch.