Certaldo

Anfang der 50er Jahre vergab die DDR- Wochenzeitung „Sonntag“ an Klemke einen Auftrag für ihre Rubrik „Meistererzählungen der Weltliteratur“. Illustrationen für eine Doppelseite zu Erzählungen von Giovanni Boccaccio. Diese Rubrik wurde dann noch monatelang fortgesetzt.

Mein Vater dazu 1992: „Das hab ich denen dann gezeichnet und es hatte eine erstaunliche Resonanz gehabt. Daraufhin hat mich mein Freund… wie hieß der noch? Ich komm jetzt nicht auf den Namen, der war Cheflektor oder sowas bei Aufbau, also der hat gesagt, er wolle mal mit mir reden. Er hat mir dann erzählt, er hätte da eine ganz neue Fassung von Boccaccio, neu übersetzt, das Beste, was es überhaupt gäbe und ob ich dafür Interesse hätte? Natürlich hab‘ ich dafür Interesse gehabt!“

Max Schröder war dieser Freund, Cheflektor des Aufbauverlages. Klemke wurde also der Gestalter dieser zweibändigen Ausgabe des Dekameron von Boccaccio. Die Illustrationen in Holz zu stechen dauerte, aber er lieferte. 105 Abbildungen, mit Rahmen und Textverzierungen, zuerst gezeichnet, dann übertragen auf den Holzblock, gestochen und abgezogen, dazu das Layout für zwei Bände mit Schuber. Zudem, von den gelieferten Holzstichen kamen nicht alle anstandslos ins Buch. Bei einigen gab es Bedenken hinsichtlich Erotik und Freizügigkeit. Nicht so vom Verlag, eher höheren Orts. Mein Vater dazu: „Dazu kam auch noch, dass der Wendt darin rumgefummelt hat, sich ewig beschwert hat. Also hab‘ ich einige eben neu gemacht. Aber anständiger wurden die nie. Als wir uns später mal getroffen hatten, in der Akademie oder weiß der Deibel wo, es waren noch andere Leute dabei, da hab ich zu ihm gesagt: Du hast mir übrigens ‘nen großen Gefallen getan…  ich hab nämlich noch dazugeschrieben „Verboten vom Staatssekretär Wendt“ und genau das haben die Leute natürlich kaufen wollen, unheimlich viel sogar (gemeint sind die Abzüge von den abgelehnten Holzstichen). Ja, ich hab‘ die gut verkauft! Der fand das gar nicht ulkig, aber er konnte ja nichts dazu sagen, es waren ja noch mehrere Leute dabei. Der Wendt, der war Staatssekretär. Was ist das denn eigentlich, ‘n Staatssekretär? Aber der hatte ja auch seinen Ärger mit der Frau Lange und der Frau Sowieso (SED-Genossin Inge Lange, Abt. Frauen im ZK der SED u.a.), die solche Bettszenen nicht leiden konnten. Der Wendt, der konnte ja auch nicht machen, was er wollte.“

Hier zu sehen ist nur ein Beispiel von den abgelehnten und dann neu gemachten Holzstichen in der Reihenfolge: Vorher – Nachher. Aber das Moralinsaure war nicht nur typisch für die „Führenden SED-Genossen und Genossinnen“. In all den Jahrhunderten davor hatten Übersetzer und Verleger des Dekameron ebenso ihre Probleme mit dem Text und dem ironisch-frivolen Inhalt. Das Neue, was nun Aufbau-Verlag-Cheflektor Max Schröder, der Künstlerische Leiter Karl Gossow und Werner Klemke erreichen wollten, war, aus der scheinbar heiklen Novellensammlung der Renaissance ein echtes Volksbuch für einen großen Leserkreis zu machen – in der DDR zumindest. Es gelang. Seit 1958 erschien das Buch in etlichen Auflagen im Aufbau Verlag und gleich auch in Lizenz in Hamburg, Frankfurt, Wien. Das Buch bekam dann in Leipzig die internationale Buch-Goldmedaille und…

eines Tages, so um 1974, erhielt Klemke ein Brief vom Ufficio del sindaco della città Certaldo. Certaldo in der Toskana ist die Stadt, in der Giovanni Boccaccio geboren wurde, lebte und starb. Das Schreiben lag monatelang auf einem Stapel Briefe im Arbeitszimmer, bis mal jemand auf den Gedanken kam, den italienischen Text übersetzen zu lassen. Darin, so zeigte sich, bot die Stadt Certaldo dem Grafiker Werner Klemke die Ehrenbürgerwürde an und lud ihn zu einem Besuch ein. Er nahm an und fuhr hin.

Geblieben ist dieses Foto: Wenn schon, dann aber richtig… jedenfalls so in Italien. Man hat einen Umzug organisiert, mit unseren Eltern mittendrin, damit die Bürger von Certaldo ihren neuen Ehrenbürger auch mal zu Gesicht bekommen konnten.

In einem Festakt überreichte man ihm eine Urkunde, die ihn als Ehrenbürger auswies. Ich weiß nicht, welche Vergünstigungen ein Ehrenbürger haben kann… vielleicht hätte er umsonst mit der Straßenbahn fahren können? Nur das die Stadt keine solche hat. Sie hat aber ein Funiculare, eine Standseilbahn, die hoch in die Altstadt führt.

Über die Ehrenbürgerurkunde, die er dort erhielt, sie ist in Form einer Handschrift des 14.Jahrhunderts, sagte Klemke im Gespräch mit Horst Drescher: „Das sollte ich mir hier an die Wand hängen, finden Sie nicht? Sozusagen mein Meisterbrief. Meisterbriefe waren doch auch so repräsentativ gestaltet in früheren Jahrhunderten. Sehen Sie mal, Bücher illustrieren ist doch nur ein Teil der Arbeit. Unter Bücher machen verstehe ich alles: durch Auswahl der Papiersorte und Lettern, durch die Satzanordnung und den Buchschmuck, auch durch die Art des Einbandes, den Schutzumschlag gibt man einem Buch seine Gestalt. Zutaten, mit denen man die Absichten des Verfassers gerecht zu werden versucht, und dem Leser möchte man die Lektüre erfreulich machen.“

Erfreulich ist sie übrigens heute noch, die Lektüre von Boccaccios Dekameron mit den Holzstichen und der Buchgestaltung von Klemke aus dem Jahr 1958.