Ich erinnere mich ziemlich genau an diesen Oktobertag 1954. Unsere Mutter und wir vier Kinder warteten vor einem Maschendrahtzaun. Es war bereits dunkel und hinter dem Zaun, nur zu erahnen, der Flughafen Schönefeld. Ich erinnere mich an kein Empfangsgebäude oder irgendeine Wartehalle, nein, nur an den Maschendrahtzaun mit einer Tür. Es war aufregend. Wir hörten ein Flugzeug kommen, es knatterte gewaltig, eine zweimotorige Propellermaschine. Und etwas später, inmitten fremder Männer, kam auch mein Vater durch das Tor. Zurück aus China.
Der nächste Morgen war wie Weihnachten. Die Bescherung erfolgte aus dem mitgebrachten taubenblauen Koffer: chinesische Mitbringsel. Was da nicht alles an erstaunlichen Dingen auftauchte… zunächst mal Pinsel, Pinsel, Pinsel, auch Bücher, die von hinten zu lesen waren, selbst die Kinderbücher, Rollbilder, Bögen von hauchdünnem Chinapapier, goldgeprägte Tuschesteine, verzierte Reibesteine, kupferne Paperweights mit Drachen, Bronzetschinellen, kleine Trommeln, die man zwischen den Handflächen drehen musste, dann klapperten sie, für uns Kinder kleine Stofflöwen, ein mit einem goldenen Drachen verziertes Holzschwert für mich, ich habe es noch, Blechspielzeug, aber auch in Lehm gebackene uralte Eier, die niemand essen wollte (sie wurden Jahre später entsorgt), Farbsteine und geheimnisvolle, in feines Papier gewickelte Farbpulver, Schächtelchen und Töpfchen.

Von nun an spielte chinesische Kunst eine bedeutende Rolle bei unserem Vater, in unserer Wohnung, in der Familie.
Wir haben noch ein Rollbild. Chinapapier, mit Tusche bemalt, Bambus und Vögel. Schwalben sind das, denke ich, und ein Nest. Unsere Schwester Sabine meint, dass unser Vater darauf geübt hätte, mit Pinsel und Chinatusche zu zeichnen. Sagt man eigentlich Zeichnen oder Malen? Jedenfalls hätte er dort in China, gleich vor Ort, die neuen Mittel ausprobiert. Möglich ist es, weil das Bild keine Stempel hat. Also für’s erste Mal… erstaunlich.
Es gibt ja Leute, nicht nur in China, auch in Europa, die üben ihr Leben lang das Bambusmalen. Die machen das richtig nach Vorschrift, wie die russischen Ikonenmaler. Ich hab’s auch mal probiert, nach einem Crashkurs in Bambusmalen. Allein so ein Bambusblatt… da geht es um die Frage mit welchem Pinsel auf welchem Papier (er gibt so viele China- oder Japanpapiere) und in welchem Verhältnis stehen Farbe und Wasser im Pinsel und mit welcher Geschwindigkeit und welchem Druck bewegt man den Pinsel am Anfang der Linie und am Ende und so weiter… das alles nur für ein Blatt vom Bambusbaum. Ich hatte damals verstanden, warum man sowas lebenslang übt. Seitdem hab‘ ich Respekt vor chinesischer Tusche und Pinsel. Wie es aussieht, hat unser Vater das ziemlich schnell hingekriegt.

Wie kam Werner Klemke nach China? Ermöglicht hat es das Kulturministerium, vermutlich. Damals war so eine beginnende Hochzeit deutsch-chinesischer Freundschaft. Die währte nicht lange. Es ist durchaus üblich, dass Künstler reisen, so wie einst Adlige oder aber Zimmerleute und andere Handwerker… um zu schauen und zu lernen. Also Werner Klemkes Grand Tour oder Walz. Er hatte die Wahl zwischen Rumänien und China. Er wählte China. Ich glaube, so eine Flugreise von Berlin nach Peking im Jahr 1954 war ganz sicher ein Abenteuer, eine Herausforderung. Unser Vater war damals noch keine 40 Jahre alt, also durchaus fit dafür, mit diesen, amerikanischen Bombern nachempfundenen, sowjetischen Iljuschin IL12 in der wackeligen Höhe von zwei bis dreitausend Metern zweieinhalb Tage lang von Flugplatz zu Flugplatz zu hüpfen. Warschau – Moskau – Kasan – entlang der Transsibirischen Eisenbahn von Stadt zu Stadt bis Irkutsk. Er erzählte, sie seien sogar in der Wüste gelandet. Der letzte Flugplatz vor Peking war tatsächlich der mongolische Feldflugplatz Gurvan Saikhan in der Wüste Gobi. Dann ging’s nur noch über die Chinesische Mauer, gut zu sehen in 2000 m Höhe, und schließlich Landung in Peking. Acht Wochen China! Seine mitreisenden Künstlerkollegen waren der Bildhauer Fritz Cremer und die Maler Bernhard Kretzschmar und Bert Heller. Ihre chinesischen Kollegen hatten ein überaus strammes Programm vorbereitet: Peking, Schanghai, Yungang-Grotten bei Datong, das ehemalige Tientsin, 400 km von Peking entfernt in der Provinz Shanxi, Tianjin am Gelben Meer und einige andere der großartigen Denkmäler der Jahrtausende alten Geschichte Chinas. Dazu Treffen mit Kollegen und Kulturfunktionären, sogar Mao tauchte auf und Tschou En Lai, und und und. Das Problem, wie unser Vater erzählte, war, dass die deutschen Künstler eigentlich Zeit gebraucht hätten, um zu arbeiten. Sie wollten ja mit Ergebnissen zurückkommen. Dem Bildhauer Cremer hat man sogar ein Atelier zur Verfügung gestellt, denn Bildhauerei braucht Zeit und Raum. Er schaffte mehrere Porträts in Ton. Kretzschmar und Heller malten. In einem Brief beschrieb unser Vater, wie sich die beiden Maler in die Haare gekriegt hatten, weil sie sich in Peking ein Hotelzimmer teilen mussten und die Staffeleimalerei ja eine raumgreifende Kunst ist. Zwischen all den Besuchen von Sehenswürdigkeiten, offiziellen Treffen, Atelierbesuchen, Betriebsbesichtigungen und Festessen blieb nicht viel Zeit für die Arbeit. Klemke hatte sich vorgenommen, die Geheimnisse des chinesischen Farbholzschnitts vor Ort zu erkunden. Die alten Chinesen konnten schon drucken, als man bei uns noch Bücher mit der Hand abschrieb und als man in Europa gerade erst mit der schwarzen Kunst begann, druckten die bereits in Farbe. Im alten China hing das alles zusammen beziehungsweise folgte aufeinander, wie unser Vater erzählte, die uralte Kunst des Schneidens von Stempeln und das in Holz Schneiden und die enge und für den Künstler Klemke logische Verbindung von Schrift und Malerei. Das hat den chinesischen Künstlerkollegen wohl imponiert, dass da jemand aus Europa kam, der sich weniger für Großbaustellen und Stoßarbeiter und andere kommunistische Errungenschaften interessierte, sondern für ihre jahrhundertealte künstlerische Handwerkstechniken und für ihr Papier und ihre einmaligen tiefschwarzen Tuschesteine und leuchtendroten Siegelfarben. Und so eröffneten sie ihm Schätze aus Museen und Werkstätten. Und echte und langjährige Freundschaften fand mein Vater dort zu den Malern Li Keran, ein Schüler, ja eigentlich der Lieblingsschüler des große Qi Baishi, und Guan Liang aus Shanghai. Der eine war ein unbestrittener Meister im Malen von Wasserbüffeln, der andere war einzigartig bei der Darstellung der Chinesischen Oper – simpel formuliert.
Ein gutes Jahr nach der Reise konnte Klemke solche meisterhaften Farbholzschnitte im Ausstellungssaal auf der Berliner Friedrichstraße auch einem deutschen Publikum vorstellen. Jedenfalls hat sich diese Reise und Klemkes Erkenntnisse über die Chinesische Malerei und Druckkunst in den eigenen Arbeiten tiefe Spuren hinterlassen. Zum Schriftsteller Horst Drescher sagte er noch 1989 bewundernd: „Nun sehen Sie sich nur mal an, was die für eine Leichtigkeit haben in ihren Arbeiten; wo die Spitzenleistungen der europäischen Grafik liegen, da fangen die Kerle erst an! Jeder Pinselstrich muss doch untadelig sein, Korrekturen sind da nicht möglich bei der Tuschmalerei. Ich habe den Qi Baishi malen sehen, der malt mit dem ganzen Körper!“
Ja, er hatte in Peking den alten Qi Baishi besucht. Von seiner Begegnung mit Qi Baishi hat er uns oft erzählt. Auch von dessen Werdegang… vom Stempelschneider und Maler von Briefpapieren. Mit schönem Briefpapier drückt man in China seine Wertschätzung gegenüber dem Empfänger aus. Gebrauchsgrafik eben! Als mein Vater ihn besuchte, war Qi Baishi bereits über 90 Jahre alt und in seiner Heimat wohl der am meisten verehrte und international der bekannteste chinesische Maler.
Heute erreichen Qi Baishis Rollbilder durchaus hohe sechsstellige Dollarpreise.