Bremer Stadtmusikanten

Werner Klemkes Kriegsgefangenschaft in Ostfriesland war eine Internierung, das hieß, die militärische Rangordnung der Wehrmacht blieb erhalten, aber ohne Waffen. Die Briten bewachten nur das riesige Areal, das ehemalige Marinelager Tidofeld, mehr nicht. Kurz vor der Kapitulation hatten seine holländischen Freunde meinem Vater ein Schreiben in die Hand gedrückt, worin sie bezeugten, dass er sich als aktiver Gegner des Nationalsozialismus gezeigt habe.

Es endet, übersetzt in Deutsch, so: „Die Unterzeichnenden ersuchen die alliierten militärischen und zivilen Behörden, diesen ehrlichen, loyalen und zuverlässigen Mann, der beim Aufbau eines neuen und demokratischen Deutschlands eine große Hilfe sein kann, mit der ihm gebührenden Güte zu behandeln.“

Ich frage mich, wie er in diesem Internierungslager in Ostfriesland mit dem Schreiben der Widerstandsgruppe, das er in der Tasche hatte, umging? Für seine deutschen militärischen Vorgesetzten, die waren ja noch im Amt, wäre das, was er getan hatte, Vaterlandsverrat gewesen. Denen hat er es sicher nicht gezeigt. Unserer Schwester Christine hatte er aber erzählt, dass den Engländern das Schreiben oder seine Tätigkeit in Holland eher suspekt war, dass er deshalb sogar Nachteile in Kauf nehmen musste. Der britische Geheimdienst hielt ihn wohl für einen Kommunisten. So war die Zeit damals.

Der einzige Vorteil der Internierung – die Soldaten hatten nichts zu tun und freien Ausgang in die Stadt Norden. Genauer gesagt, es war wohl gewünscht, dass die Internierten sich Arbeit in der Umgebung suchten.

Johann Haddinga, später Chefredakteur des Ostfriesischen Kuriers, bekam als Kind zum Weihnachtsfest 1945 ein schmales Heftchen, ein Kinderbuch, geschenkt. Druckfrisch. Die Bremer Stadtmusikanten.

Und das kam so: Mein Vater hatte dort im Lager einen Kameraden, Martin Kirchner, der war Steindrucker. Klemke und Kirchner entdeckten in der Stadt Norden die Grafische Kunstanstalt und Druckerei Siebolts. Dessen Chef, Peter Siebolts ließ sich auf das Ansinnen der beiden Soldaten ein, die Bremer Stadtmusikanten als Buch herauszugeben. So hat Johann Haddinga später die Entstehungsgeschichte recherchiert: „Klemke ließ sich von Kirchner in die Kunst des Steindrucks einführen. Er schrieb dann eigenhändig den Text des Grimm-Märchens auf Stein und zeichnete die Bilder dazu. Kamerad Kirchner und Unternehmenschef Siebolts, von Beruf Buchdrucker und Schriftsetzer, vollendeten das Werk auf der im Betrieb vorhandenen Steindruckpresse. Sie stellten täglich 15 Exemplare her. Auf der Rückseite des ebenfalls von Klemke gestalteten Umschlags steht der Vermerk: auf den Stein geschrieben u. gezeichnet von Werner Klemke. Gedruckt hat’s Martin Kirchner auf der Steindruckpresse vom Onkel Siebolts in Norden/Ostfr.“

Das Büchlein wurde, der besonderen Umstände dieser Kriegsgefangenschaft wegen, das erste nach dem Krieg gedruckte Kinderbuch in Deutschland. Und ganz ohne Alliiertenlizenz. Wie Hattinga weiter recherchierte, ging das Büchlein gut weg auf dem Schwarzmarkt von Hannover, gerade vor dem ersten Nachkriegs-Weihnachtsfest.